Sexualpädagogisches Schutzkonzept

Sexualerziehung in Kindertageseinrichtungen

 

Einführung:

In der Entwicklung jedes einzelnen Kindes spielt das Interesse am eigenen Körper, das Lustempfinden und altersentsprechende sexuelle Aktivitäten eine große Rolle.

Ein wichtiger Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung bei Kindern ist die psychosexuelle Entwicklung. Diese beginnt bereits vor der Geburt und indem Kinder ihren Körper entdecken, den der anderen begucken und sich mit ihnen vergleichen, entwickeln sie ein Bild von sich selbst. Dieses schließt unter anderem die geschlechtliche Zugehörigkeit mit ein.

Der Umgang mit Sexualität in der Gesellschaft ist in den vergangenen Jahrzenten und Jahren sehr viel offener, aber auch komplexer und komplizierter geworden.

Kindertagesstätten sind der Ort, an dem Kinder Beziehungen und Freundschaften erleben. Sie lernen Gefühle auszutauschen, Nähe und Distanz einzuschätzen und Lösungen für Konflikte zu finden.

Damit Kindern sexuelle Bildung ermöglicht werden kann, sollte jede Kita über ein sexualpädagogisches Konzept verfügen, welches sowohl sexualpädagogische Angebote als auch Vorkehrungen und Maßnahmen des Kinderschutzes beinhaltet. Die Einbeziehung der Eltern und die Informationsweitergabe an sie, sollte dabei einer der wichtigsten Aspekte sein.

In den letzten Jahren wurde in der Öffentlichkeit, über das Thema Kinder und Sexualität, vor allem im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch berichtet.

Aufgrund der gesetzlichen Reformen wurde der staatliche Schutzauftrag auch für Kindertageseinrichtungen konkretisiert und erweitert. In vielen Einrichtungen hat dies bereits zu einem verbesserten Kinderschutz geführt.

Eine kindgerechte Sexualpädagogik und vor allem der Schutz vor sexualisierter Gewalt gehören zusammen und beeinflussen sich wechselseitig. Kinder, die bei der Entwicklung vertrauensvoller Beziehungen und eines positiven Körperbildes gestärkt werden und unterstützt werden, sind viel besser geschützt, vor Übergriffen und Missbrauch. Auf der anderen Seite kann gesagt werden, dass Kinder, deren Schutz gewahrt ist, ungezwungener ihren Körper entdecken, liebevolle und sichere Beziehungen eingehen und Antworten auf ihre Fragen zu Körperentwicklung und Sexualität bekommen.

 

Merkmale kindlicher Sexualität

Definition von Sexualität (Weltgesundheitsorganisation WHO)

„Sexualität bezieht sich auf einen zentralen Aspekt des Menschseins über die gesamte Lebensspanne hinweg, der das biologische Geschlecht, die Geschlechtsidentität, die Geschlechtsrolle, sexuelle Orientierung, Lust, Erotik, Intimität und Fortpflanzung einschließt. Sie wird erfahren und drückt sich aus in Gedanken, Fantasien, Wünschen, Überzeugungen, Einstellungen, Werten, Verhaltensmustern, Praktiken, Rollen und Beziehungen.

Während Sexualität all diese Aspekte beinhaltet, werden nicht alle ihre Dimensionen jederzeit erfahren oder ausgedrückt. Sexualität wird beeinflusst durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, sozialer, wirtschaftlicher, politischer, ethnischer, rechtlicher, religiöser und spiritueller Faktoren“ (WHO in BZgA 2011, S.18).

Sexualität beginnt nicht erst später, beispielsweise in der Zeit der Pubertät, sondern ist ein menschliches Grundbedürfnis von Beginn an und gehört zur Entwicklung jedes Kindes.

Sie ist nicht den jugendlichen oder Erwachsenen vorbehalten, sondern durchzieht das Leben von der Geburt an. Jedoch äußert sich Sexualität je nach Alter, Reife und Entwicklungsphasen in sehr unterschiedlichen Formen. Grundlegend ist es, die kindliche Sexualität in ihrer Besonderheit und Eigenständigkeit zu erkennen und wertzuschätzen.

Dass auch Kinder in der Beschäftigung mit sich selbst und im Zusammensein mit anderen Kindern Körperfreude und Körperlust empfinden, ist völlig logisch. Genau so klar ist auch, dass sich die kindliche Form der körperlichen Lust grundlegend von der Erwachsenensexualität unterscheidet.

 

Typische Kennzeichen kindlicher Sexualität:

  • Ganzheitliches Erleben mit allen Sinnen:

Kinder erkunden die Welt ganzheitlich und mit allen Sinnen. Dabei beziehen sie sowohl ihren eigenen Körper als auch andere Kinder spielerisch mit ein. Sinnesempfindungen, Gefühle und Gedanken treffen aufeinander, und sie erfahren „Wohlsein“ und „Unwohlsein“. Erst langsam sind die Kinder in der Lage, zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungen, Emotionen und Überlegungen zu differenzieren

  • Spiel und Spontaneität:

Das spielerische Entdecken des eigenen Körpers und die Einbeziehung anderer Kinder ist Teil der allgemeinen kindlichen Spielfreude. Kindliches Spiel braucht keinen Zweck außerhalb sich selbst und ist von Spontaneität und Fantasie geprägt. Auch Körpererkundungsspiele und gemeinschaftliche Rollenspiele gehören dazu

  • Angesiedelt im Hier und Jetzt:

Kinder empfinden körperliche Lust beim Bewegen, Toben und Schmusen. Dabei vergessen sie häufig Raum und Zeit um sich herum und genießen den Moment im Hier und Jetzt. Die Freude am eigenen Körper und das Empfinden körperlicher Lust sind nicht an einem Ziel orientiert oder für sie gar zukunftsorientiert

  • Ich-Bezogenheit:

Die kindlichen Aktivitäten sind in erster Linie darauf ausgerichtet, sich selbst wohl zu fühlen. Auch wenn Kinder das Zusammensein mit anderen Kindern suchen, dominiert doch der Ich-Bezug. Dies gilt auch für das Entdecken des Körpers bei sich und anderen. Nicht das Verlangen, zu dem Gegenüber eine sexuelle Beziehung aufzubauen, oder gar das Begehren des anderen stehen im Mittelpunkt, sondern Neugier und der Wunsch, sich selbst gut zu fühlen

  • Nähe und Geborgenheit:

Kinder haben ein tiefes Bedürfnis, anerkannt und geliebt zu werden. Körperliche Nähe zu vertrauten Personen und das Empfinden von Sicherheit und Schutz tragen dazu bei, dass diese Bedürfnisse gestillt werden. Das Streben von Kindern nach Körperkontakt dient vor allem ihrer Wünsche nach Nähe und Geborgenheit

  • Unbefangenheit:

Das unbefangene Erkunden des eigenen Körpers einschließlich des Genitals sowie Rollen- und Körpererkundungsspiele mit anderen sind Bestandteile normaler psychosexueller Entwicklung, die für die Kinder wichtige Lernerfahrungen darstellen. Aus erwachsener Perspektive handelt es sich hierbei um altersgerechte sexuelle Aktivitäten. Das Genitalspiel zum Beispiel empfinden sie einfach nur als angenehm, ohne sich darüber weitere Gedanken zu machen

 

Unterschiede kindliche Sexualität und Erwachsenensexualität

 

Kindliche Sexualität

Erwachsene Sexualität

Spielerisch, spontan

Absichtsvoll, zielgerichtet

Nicht auf zukünftige Handlungen ausgerichtet

Auf Entspannung und Befriedigung hin orientiert

Erleben des Körpers mit allen Sinnen

Eher auf genitale Sexualität ausgerichtet

Egozentrisch

Beziehungsorientiert

Wunsch nach Nähe und Geborgenheit

Verlangen nach Erregung und Befriedigung

Unbefangenheit

Befangenheit

Sexuelle Handlungen werden nicht bewusst als Sexualität wahrgenommen

Bewusster Bezug zu Sexualität

 

 

Geschlechtsidentität und Geschlechtsrolle

„Geschlechtsidentität“ -> Wissen und das Bewusstsein darüber, einem Geschlecht anzugehören

„Geschlechtsrolle“ -> Geschlechterbezogene Rolle, die im Zusammensein mit anderen     gezeigt/gespielt wird

 

Spätestens bei der Geburt werden Kinder in der Regel auf ein Geschlecht festgelegt, zumeist auf Grund des aktuellen Zustands der äußerlichen Geschlechtsorgane. Die Eltern und weitere wichtige Personen übernehmen diese Festlegung und richten ihr Verhalten danach aus, je nachdem ob es sich um ein Mädchen oder um einen Jungen handelt. Die Wahl des Namens und der Kleidung, die Gestaltung des Kinderzimmer, Spielsachen und Geschenke sowie generell der Umgang mit dem Kind werden vor dem Hintergrund kultureller Konventionen geschlechtstypisch empfunden, gedacht und entschieden.

Mädchen bzw. Jungen sind nicht als „typische“ Mädchen bzw. Jungen geboren, sondern werden erst im Verlauf ihrer Sozialisationsgeschichte, d.h. im Prozess des Hineinwachsens in Familie und Gesellschaft, erst dazu gemacht. Was ein Kind fühlen und empfinden, tun und lassen soll, wird danach beurteilt, ob es mit der ihm zugewiesenen Geschlechtsrolle in Übereinstimmung findet.

Schon mit Ende des zweiten Lebensjahres haben Kinder ein Wissen darüber entwickelt, welche Gegenstände und Verhaltensweisen typischerweise zu welchem Geschlecht gehören, und zeigen im Spiel klare geschlechtstypische Verhaltensweisen.

Bei genauerer Betrachtung erweist sich der Gedanke des entweder weiblich oder männlich jedoch als Trugschluss. Weder im biologischen noch in psychologischer, sozialer und kultureller Hinsicht existiert eine vorab festgelegte und auf Dauer beständige Eindeutigkeit der Geschlechtszuweisung.

 

Unsere Aufgabe ist daher eine geschlechtersensible Erziehung

Bildungs- und Erziehungsziel: Das Kind soll eine eigene Geschlechtsidentität entwickeln können, mit der es sich sicher und wohl fühlt. Es soll in der Lage sein, einengende Geschlechterstereotypen zu erkennen und traditionelle sowie kulturell geprägte Mädchen- und Jungenrollen kritisch zu hinterfragen und sich durch diese nicht in seinen Interessen, seinem Spielraum und seinen Erfahrungsmöglichkeiten beschränken lassen.

Das Kind kann dann ein differenziertes und vielfältiges Bild von den möglichen Rollen von Frauen und Männern erwerben.

Dazu gehört:

  • Das andere Geschlecht als gleichwertig und gleichberechtigt wahrnehmen
  • Unterschiede zum anderen Geschlecht wahrnehmen und wertschätzen
  • Erkennen, dass „weiblich“ und „männlich“ keine uniformen Kategorien sind, sondern das „Weiblichsein“ und „Männlichsein“ in vielfältigen Variationen möglich ist
  • Grundverständnis darüber erwerben, dass im Vergleich der Geschlechter die Gemeinsamkeiten hinsichtlich Begabungen, Fähigkeiten und Interessen größer sind als die Unterschiede
  • Erkennen, dass eigene Interessen und Vorlieben nicht an die Geschlechtszugehörigkeit gebunden sind
  • Seine eigenen Interessen und Bedürfnisse über die geschlechterbezogenen Erwartungen und Vorgaben anderer zu stellen
  • Geschlechterbezogene Normen, Werte, Traditionen und Ideologien kritisch hinterfragen
  • Andere nicht vorrangig aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit beurteilen, sondern sie in ihrer individuellen Persönlichkeit wahrnehmen
  • Die eigenen geschlechtsstereotypischen Erwartungen an sich und andere kritisch hinterfragen
  • Mit Widersprüchen zwischen der eigenen Geschlechtsidentität und Erwartungen von anderen umgehen

 

Bildungsrahmenpläne

Das Kind in seiner Welt:

Ziele zur Förderung der Ich-Kompetenzen und der sozialen Kompetenzen

  • Sich im eigenen Körper wohlfühlen und Lust und Unlust ausdrücken können
  • Die eigenen körperlichen Möglichkeiten kennen
  • Sexuelle Bedürfnisse lustvoll ausleben können
  • Eigene Grenzen vertreten und Grenzen anderer akzeptieren
  • Die Körperteile benennen
  • Grundverständnis über Körperfunktionen entwickeln
  • Grundverständnis über die kulturellen Unterschiede im Umgang mit Körper, Sexualität, Gesundheit und Rollenbildern entwickeln
  • Wissen darüber erlangen, was dem eigenen Körper guttut und was ihm schadet
  • Die Signale des eigenen Körpers als Maß für Wohlbefinden und Entwicklung wahr- und ernst nehmen

 

Daraus resultierende Bildungsaufgaben für die Erzieher/innen:

  • Im Alltag der Kita die individuellen Zärtlichkeitsbedürfnisse des Kindes respektieren: Was ist dir angenehm? Was magst du nicht?
  • Möglichkeiten zum Sichschminken und Geschminkt werden bereitstellen
  • Jungen- und Mädchengruppen, Rollenspielmaterial für Frauen- und Männerrollen anbieten
  • Bücher und andere Medien über Körper und Geburt bereitstellen
  • Projektarbeit zum Thema wie „Körper“ und „Sinne“ anbieten

 

Das Kind in der Gemeinschaft

Ziele zur Förderung der Ich-Kompetenzen und der sozialen Kompetenzen:

  • Eigene körperliche Bedürfnisse, Interessen und Gefühle zum Ausdruck bringen und sich mit anderen darüber verständigen
  • Körperkontakt mit anderen suchen und genießen
  • Sich seiner geschlechtlichen Identität als Junge oder Mädchen bewusst werden
  • Mit anderen Regeln aushandeln über erwünschten und nicht erwünschten Körperkontakt, Grenzen durchsetzen
  • Sich auf Herausforderungen durch andere einlassen und sich abgrenzen können
  • Begriffe kennen, die Gefühle und Körperempfindungen ausdrücken und sich mit anderen darüber austauschen
  • Von den unterschiedlichen Vorlieben und Grenzen der anderen wissen
  • Grundverständnis erlangen, dass die Kinder in der Gruppe unterschiedliche körperliche Fähigkeiten haben, jünger und ältere Kinder, Kinder mit besonderem Förderbedarf…
  • Wissen darüber, dass andere Menschen anders denken und fühlen

 

Daraus resultierende Bildungsaufgaben für die Erzieher/innen:

  • Im Alltag der Kita Gespräche mit den Kindern über die Besonderheiten jedes einzelnen, die Andersartigkeit und die Gemeinsamkeiten führen
    • Kinder am Aufstellen von Regeln beteiligen, beim Einhalten der Regeln unterstützen
    • Auf Fragen der Kinder altersgemäß antworten
    • Rollenspielmaterial und Verkleidungssachen für Frauen- und Männerrollen bereitstellen
    • Babypuppen, Arztkoffer und Verbandsmaterial anbieten
    • Schminke, Frisiermaterial und Spiegel vorhalten
    • Nischen für Rückzug und Entspannung, Sinnesräume (Snoozleraum) anbieten
    • Bilderbücher und andere Medien zu Körper, Bewegung, Ernährung, Gesundheit, Sexualität bereitstellen
    • Die Begriffe Penis und Scheide für die Geschlechtsorgane verwenden
    • In der Wickelsituation: bei den Kindern darauf achten, dass die Kinder sich innerhalb der eigenen Gruppe, wenn es die Situation ermöglicht, aussuchen dürfen, wer sie wickelt, und ob Kinder mit in den Wickelraum dürfen, um dort zu warten (Schulpraktikant/innen sind ausgeschlossen)
    • Es wird im Sommer darauf geachtet, dass die Kinder Badebekleidung im Kindergarten haben, da die Kinder nicht nackt herumlaufen sollen (Außenbereich ist einsehbar)

 

 

Regeln für Körpererkundungsspiel:

Damit Körpererkundungsspiele bereichernde Lernerfahrungen für Mädchen und Jungen sind, dürfen sie nicht einseitig nur von einem Kind initiiert, sondern müssen wechselseitig von den Kindern gewollt sein.

 

Daher sind Regeln unabdingbar:

  • Jedes Kind entscheidet selbst, ob und mit wem es seinen Körper erkunden will
  • Mädchen und Jungen streicheln und untersuchen sich nur so viel, wie es für sie selbst und die anderen Kinder angenehm ist
  • Kein Kind tut einem anderen weh
  • Kein Kind steckt einem anderen Kind etwas in eine Körperöffnung oder leckt am Körper eines anderen Kindes
  • Der Altersabstand zwischen den beteiligten Kindern sollte nicht größer als ein bis maximal zwei Jahre sein
  • Ältere Kinder, Jugendliche und Erwachsene dürfen sich an Körpererkundungsspielen nicht beteiligen
  • Hilfe holen ist kein Petzen

 

 

Die Eltern einbeziehen und beteiligen

Sexualpädagogik in der Kita kann nur gelingen, wenn die Eltern der Kinder einbezogen werden. Sie sind die wichtigsten Personen im Leben der Kinder und kennen ihr Kind am besten. Eine Pädagogik, die an den Eltern vorbeigeht oder gar gegen sie gerichtet ist, würde sich auch gegen das Kind wenden und könnte möglicherweise Schaden anrichten.

Die Beteiligung und Einbeziehung der Eltern auch im sexualpädagogischen Kontext ist demnach essentiell für die Umsetzung einer gelungenen Sexualaufklärung.

Die Beteiligung der Eltern an sexualpädagogischen Fragen sollte auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein und sich sowohl auf das einzelne Kind als auch auf die Gruppe der Kinder und das Konzept der Einrichtung insgesamt beziehen. Die folgenden Beteiligungsformen können dabei helfen:

  • Allgemeine sexualpädagogische Informationen der Eltern im Rahmen der Aufnahmegespräche
  • Themenelternabende zu unterschiedlichen Aspekten von Sexualpädagogik
  • Gespräche mit Teilgruppen der Elternschaft
  • Einbeziehung der psychosexuellen Entwicklung in die Entwicklungsgespräche
  • Gespräche mit einzelnen Eltern aus gegebenem Anlass
  • Gespräche mit Elterngruppen aus gegebenem Anlass

 

Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung

Begriffserklärungen:

Was bedeutet und beinhaltet das Kindeswohl konkret und was meint Kindeswohlgefährdung? Das ist schwierig zu sagen, denn sowohl Kindeswohl als auch Kindeswohlgefährdung sind unbestimmte Rechtsbegriffe, welche einer individuellen Beobachtung und Rechtsprechung durch das Familiengericht bedürfen.

 

Begriff: Kindeswohl

Bildungs- und Erziehungspläne zählen den Schutz der Kinder vor Gefahren für ihr Wohl ausdrücklich zu den Pflichtaufgaben jeder Kindertageseinrichtung.

Wenn die kindlichen Grundbedürfnisse der Kinder ausreichend befriedigt sind, so kann davon ausgegangen werden, dass das Kindeswohl gesichert ist. Die kindlichen Grundbedürfnisse sind nach Brazelton und Greenspan:

 

  • Beständige und liebevolle Beziehungen
  • Körperliche Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation
  • Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
  • Entwicklungsgerechte Erfahrungen
  • Grenzen und Strukturen
  • Stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität
  • Eine sichere Zukunft für die Menschheit

 

Um das kindliche Wohlergehen besser einschätzen zu können, wird die Umsetzung der Rechte der Kinder auf die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse genauer beobachtet.

Die Grundvoraussetzungen zu der Entwicklung eines jungen Menschen zu einer eigen-verantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit sind dann gegeben.

 

Begriff: Kindeswohlgefährdung

Als Kindeswohlgefährdung gilt seit den 1950er Jahren „eine gegenwärtige in einem solchen Maße vorhandene Gefahr, dass sich bei der weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt“ (BGH FamRZ. 1956, S. 350).

Gemäß dieser Definition müssen drei Kriterien gleichzeitig erfüllt werden, damit von einer Kindeswohlgefährdung auszugehen ist.

  • Die Gefährdung des Kindes muss gegenwärtig gegeben sein
  • Die gegenwärtige oder zukünftige Schädigung muss erheblich sein
  • Die Schädigung muss sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lassen, sofern sie noch nicht eingetreten ist

 

Die Gefährdung des Kindeswohls kann in vier Kategorien unterteilt werden:

  • Konkrete Anhaltspunkte für Vernachlässigung, körperliche Misshandlung oder sexuellen Missbrauch des Kindes in der Familie oder im sozialen Nahraum des Kinders
  • Familiensituationen, bei denen das Wohl des Kindes indirekt gefährdet ist, zum Beispiel im Falle häuslicher Gewalt, bei schwer psychisch kranken oder suchtabhängigen Eltern
  • Feststellung klarer Anhaltspunkte für eine schwere Entwicklungsbeeinträchtigung oder Behinderung und zugleich Ablehnung diagnostischer Abklärung bzw. keine Inanspruchnahme von Hilfen durch die Eltern
  • Gefährdung des Kindes in der Kita selbst bei Nichtgewährleistung von Mindeststandards in personeller, sächlicher oder räumlicher Hinsicht oder bei einem das Kindeswohl gefährdenden Verhalten des Personals

 

Erscheinungsformen der Kindeswohlgefährdung:

  1. Vernachlässigung und Verwahrlosung
  2. Misshandlung
  3. Sexuelle Übergriffe/ Sexueller Missbrauch

 

  1. Vernachlässigung und Verwahrlosung

Vernachlässigung wird definiert als „die andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns sorgeverantwortlicher Personen (Eltern oder andere von ihnen autorisierte Betreuungspersonen), welches zur Sicherstellung physischer und psychischer Versorgung des Kindes notwendig wäre“ (Schone u.a. 1997).

Unterlassungen können verschiedene Grundbedürfnisse von Kindern betreffen. Entsprechend werden mehrere Unterformen von Vernachlässigung unterschieden (vgl.u.a. Kindler 2006, S. 3-2).

  • Körperliche Vernachlässigung
    • Unzureichende Versorgung mit Flüssigkeit und Nahrung
    • Witterungsangemessene Kleidung
    • Mangelhafte Hygiene
    • Medizinische Unterversorgung
    • Unzureichende Wohnverhältnisse
  • Erzieherische und kognitive Vernachlässigung
    • Fehlende Kommunikation
    • Negative erzieherische Einflussnahme
    • Fehlende Anregung zu Spiel und Leistung
  • Emotionale Vernachlässigung, Mangel an
    • Liebe
    • Geborgenheit
    • Wertschätzung
    • Respekt
  • Unzureichende Aufsicht
    • Alleine lassen von Kindern innerhalb/außerhalb des Wohnraums

2. Misshandlung

Kindesmisshandlung meint physische und psychische Gewalt bei der mit Absicht Verletzungen und Schäden herbeigeführt, oder aber bei der diese Folgen bewusst in Kauf genommen werden.

 

Physische Misshandlung

Psychische Misshandlung

Tritte

Ablehnen des Kindes

Stöße

Isolieren

Stiche

Terrorisieren

Schläge (mit Gegenständen)

Ignorieren

Vergiftungen

Erpressen, bestechen

Einklemmen

Adultifizieren

Schütteln

 

 

3. Sexueller Missbrauch

Sexueller Missbrauch an Kindern kommt nicht nur selten vor und kann sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zu unterscheiden sind Missbrauchshandlungen mit Körperkontakt, wie Berührungen an intimen Stellen oder Eindringen in den Körper des Kindes, von Handlungen ohne Körperkontakt, wie zum Beispiel exhibitionistische Handlungen, das Zeigen pornografischer Inhalte oder das Fotografieren entblößter Kinder für kinderpornografische Zwecke (Vgl. Maywald, 2018).

Im strafrechtlichen Sinn ist „sexueller Missbrauch“ eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Sexuelle Handlungen von Erwachsenen an oder mit Kindern sind immer strafbar, auch dann, wenn sich das Kind scheinbar einverstanden gezeigt hat. In einer sozialwissenschaftlichen Definition wird unter sexuellem Missbrauch von Kindern „eine die geltenden Generationenschranken überschreitende sexuelle Aktivität eines Erwachsenen oder Jugendlichen mit Minderjährigen (verstanden), in Form von Belästigung, Masturbation, oralem, analem oder genitalen Verkehr oder sexueller Nötigung bzw. Vergewaltigung sowie sexueller Ausbeutung durch Nötigen von Minderjährigen zu pornographischen Aktivitäten und Prostitution. Durch den Missbrauch werden die körperliche und seelische Entwicklung, die Unversehrtheit und Autonomie sowie die sexuelle Selbstbestimmung der Minderjährigen gefährdet und beeinträchtigt und ihre Gesamtpersönlichkeit nachhaltig gestört“ (Maywald 2013, S.53).

 

Ursachen und Folgen sexueller Übergriffe zwischen Kindern

 

Ursachen

Auswirkungen

  • häufig haben übergriffige Kinder vielfältige belastende Erfahrungen machen müssen, bei denen ihnen nicht ausreichend geholfen wurde
  • Beispiel: Beziehungsabbrüche, zerrüttete Familienverhältnisse, Mobbing-Erfahrungen, emotionale sowie körperliche Vernachlässigung, Miterleben häuslicher Gewalt, mangelnde Umsetzung an Regeln zuhause und in der Kita, selbst zuvor Opfer von sexuellem Übergriff gewesen
  •  individuelle und familiäre Risiken
  • gesellschaftliche Muster: traditionelle Vorstellung von Männlichkeit in einigen Subkulturen: Durchsetzungsfähigkeit und körperliche Dominanz zur Anerkennung -> erhöht sich Risiko für die Missachtung persönlicher Grenzen
  • sehr unterschiedlich: von geringfügig und vorübergehen bis hin zu schwerer Traumatisierung
  • auch körperliche Verletzungen können eine Folge sein  
  • häufige Folgen: Ängste, die aus der Ohnmachtserfahrung resultieren
  • Störungen der psychosexuellen Entwicklung, wie z.B. übertriebenes Schamgefühl oder die Ablehnung alles Sexuellen, oder aber zwanghafte Beschäftigung mit Sexualität
  • Vorstellung zu haben, Sexualität „hinnehmen“ und erdulden zu müssen

 

 

 

Sexuelle Übergriffe: Was die Kita tun kann, Handlungsschritte

Auf welche Weise Kinder sexuelle Übergriffe verarbeiten, hängt sehr von der Reaktion und der Unterstützung durch die Erwachsenen ab.

Wenn die verantwortlichen Erwachsenen den Berichten der Kinder aufmerksam zuhören, ihnen Glauben schenken, sie trösten und ihnen keine Mitschuld zusprechen, den Übergriff missbilligen und angemessene Schutzmaßnahmen ergreifen, dann ist die Chance sehr groß, dass der Schaden abgefedert und gemildert wird und die Kinder den Übergriff ohne größere, nachhaltige Folgen verarbeitet.

Wenn die Vorfälle jedoch heruntergespielt werden, dem Kind geglaubt oder ihm eine Mitschuld zugesprochen wird, so muss es mit seinem Leid alleine zurechtkommen, und auch für seine Zukunft damit rechnen, dass nicht ausreichend für seinen Schutz gesorgt wird.

Nicht in jedem Einzelfall ist es leicht zu erkennen, ob ein altersangemessenes oder ein sexuell auffälliges Verhalten von den Kindern gezeigt wird. Allerdings gibt es typische Konstellationen, Handlungen und Signale, bei denen eine erhöhte Aufmerksamkeit und gegebenenfalls ein Eingreifen zum Schutz der Kinder erforderlich ist. Hierzu gehören vor allem folgende

 

Merkmale:

  • Kinder, die mit deutlich älteren oder jüngeren Kindern ihren Körper erkunden
  • Körpererkundungsspiele, bei denen ein Kind ängstlich, ärgerlich oder angespannt wirkt, bzw. sich über das Verhalten eines anderen Kindes beschwert
  • Kinder, die über einen längeren Zeitraum an Körpererkundungsspielen ein im Vergleich zu anderen Spielen und Aktivitäten übermäßig starkes Interesse zeigen
  • Kinder, die eine stark sexualisierte Sprache verwenden und andere Kinder oder Erwachsene mit sexistischen Schimpfwörtern demütigen und beleidigen
  • Körpererkundungsspiele, bei denen ein Kind sich selbst oder andere Kinder an den Genitalien oder am Po verletzt
  • Kinder, die andere Kinder überreden oder drängeln, die eigenen Geschlechtsteile oder die anderen Kinder zu berühren oder erwachsene Formen der Sexualität zu praktizieren
  • Körpererkundungsspiele, bei denen Drohungen oder Redeverbote eine Rolle spielen

 

Wenn ein Junge oder ein Mädchen von einem sexuellen Übergriff berichtet oder eine Fachkraft einen Übergriff beobachtet hat, ist ruhiges und besonnenes und zugleich eindeutiges und entschlossenes Handeln erforderlich. Dabei können die folgenden Handlungsschritte unterschieden werden:

 

  • Die Grenzverletzung oder den Übergriff stoppen und benennen
    • Deutlich persönlich Stellung nehmen, knappe, klare Sätze:
    • : Stopp, ich möchte nicht, dass ihr das spielt! Wenn ein Kind einem anderen etwas in den Po steckt, kann es sich verletzen. Das akzeptiere ich nicht
  • Die Kinder befragen
    • Sachlich befragen, eher in Einzelgesprächen, so wird eher etwas anvertraut
    • Nicht verlangen, dass das übergriffige Kind sich bei dem andern entschuldigt, eventuell nicht so gemeint und da Kinder gelernt haben, eine Entschuldigung anzunehmen und dann zu vergessen, widerspricht den Empfindungen des betroffenen Kindes
  • Das betroffene Kind unterstützen
    • Sie brauchen Trost, Mitgefühl und Unterstützung, da für Kinder manchmal ein langanhaltendes Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit
    • Manche vertrauen sich dem Erwachsenen an, oder suchen Nähe, andere verarbeiten eher im Spiel oder zeichnen etwas
  • Die Regeln für die Körpererkundungsspiele nochmals in der Gruppe erläutern
  • Die Eltern der beteiligten Kinder informieren
  • Einen Elternabend anbieten
    • Meist spricht sich ein Übergriff relativ schnell in der Kita rum, entsprechend aufgeregt ist die Stimmung, offener Umgang beste Mittel
    • Gefühle können dann besprochen, Fragen geklärt, und Vorfälle verständlicher gemacht werden
  • Das Schutzkonzept der Kita überprüfen